Rechtsanwalt Matthias Radu, Weilmünster-Wolfenhausen

Rechtsanwalt Matthias Radu, Weilmünster-Wolfenhausen

Ein Betroffener handelt sorgfaltswidrig, wenn er sich alleine auf das Verkehrszeichenerfassungssystem seines Fahrzeuges verlässt und eine eigene Prüfung der Verkehrslage und der angeordneten Verkehrszeichen nicht vornimmt, wenn dieser nach Einfahrt auf eine „neue“ Autobahn zwar eine andere Straße befährt, jedoch den Angaben seines Navigationsgerätes dahingehend vertraut, dass eine zuvor angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung aufgehoben wäre.

 

 

Der Fall:

Der Betroffene war zum Tatzeitpunkt Fahrer eines Porsche Macan. Dieses Fahrzeug war mit einem Verkehrszeichenerfassungsgerät ausgestattet. Unter anderem besteht das System aus einer über dem vorderen Kennzeichen angebrachte Kamera. Dieses System erfasst automatisch Verkehrszeichen, die sich am Fahrbahnrand befinden und gibt dem Fahrer optische und akustische Signale.

Der Betroffene befuhr am Tattag die Bundesautobahn 24 vom Autobahndreieck Wittstock kommend und wechselte am Autobahndreieck Havelland über die sogenannte „Rampe 1“ auf die Bundesautobahn 10 Richtung Potsdam. Die seitens des Betroffenen zunächst befahrene Bundesautobahn wies keine Geschwindigkeitanordnung vor dem Dreieck Havelland auf (Richtgeschwindigkeit 130). Auf der Tangente (“Rampe 1”) erfolgt eine Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit in Form eines Trichters von zunächst 100 km/h auf dann 80 km/h. Zusammen mit dem Zeichen 274-80 ist ein Überholverbot für Kraftfahrzeuge über 3,5 t (Zeichen 277) vor der Zusammenführung angeordnet.

Die Meßstelle der Polizei befand sich im Bereich der Zusammenführung mit “Rampe 3”, jedoch bereits auf der Bundesautobahn 10. Auf der Bundesautobahn 10 war zunächst keine Geschwindigkeitsbeschränkung explizit angeordnet bzw. wiederholt. Sodann befindet sich ca. 600 Meter nach der Zusammenführung ein Zeichen 274 mit Zusatzzeichen, das die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h für die nächsten 45 Kilometer wegen fehlendem Seitenstreifen anordnet. Diese Geschwindigkeitsbeschränkung steht ersichtlich nicht in Zusammenhang mit der Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Tangente und soll diese auch nicht aufheben.

Das Zeichen 277 gilt ersichtlich nach dem Ende der Gefahrenstelle “Zusammenführung der Rampen 1 und 3” nicht mehr fort.

Der Betroffene erhielt beim Wechsel auf die Bundesautobahn 10 seitens des o.g. Verkehrszeichenerfassungssystems die Meldung “freie Fahrt”. Denn das VES hatte zwangsläufig nach dem Auffahren auf die Bundesautobahn 10 kein Verkehrszeichen erfasst, das eine Geschwindigkeitsbeschränkung anordnete. Das VES wertete die Auffahrt auf die Bundesautobahn 10 offensichtlich als “neue Straße”, auf der zuvor getroffene Anordnungen nicht fortgelten.

 

Die Entscheidung:

Das Amtsgericht Oranienburg (Az. 13 d OWi 3426 Js-OWi 88/21 (46/21) sah dies freilich anders und verurteilte den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 45 km/h zu einer Geldbuße von 160,00 € und ordnete ein Fahrverbot von einem Monat an. Nach Ansicht des Amtsgerichts handelt ein Betroffener sorgfaltswidrig, wenn er sich alleine auf das Verkehrszeichenerfassungssystem seines Fahrzeuges verlässt und eine eigene Prüfung der Verkehrslage und der angeordneten Verkehrszeichen nicht vornimmt, wenn dieser nach Einfahrt auf eine „neue“ Autobahn zwar eine andere Straße befährt, jedoch den Angaben seines Navigationsgerätes dahingehend vertraut, dass eine zuvor angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung aufgehoben wäre.

 

 

Praxisbezug:

Das Urteil führt nochmals vor Augen, dass ein Fahrzeugführer sich nicht „blindlings“ auf die Angaben eines Navigationssystems o.ä. verlassen darf. Dies ist jedoch selbstverständlich. Vorliegend handelte der Betroffene jedoch umsichtig und prüfte – bevor er beschleunigte -, nochmals selbst, ob tatsächlich kein Verkehrszeichen eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf der „neuen Straße“ anordnete.

Der Betroffene erlag – jedenfalls nach der Rechtsansicht des Amtsgerichts – dem Trugschluss, dass Navigationsgeräte jedenfalls richtig programmiert sein müssten und die Rechtslage zutreffend einordnen können. Dies sei jedoch im Falle des Wechsels auf eine andere Autobahn offensichtlich nicht der Fall. Denn es handele sich hierbei zwar um eine „andere Straße“, jedoch nicht um eine „neue Straße“ im Rechtssinne.

 

Kritik:

Das Urteil des Amtsgerichts ist nicht nachvollziehbar.

Unstreitig geblieben ist die Darstellung der Verteidigung, dass die Meßstelle sich auf der Bundesautobahn 10 und damit für den Betroffenen auf einer “neuen” Straße befunden habe. Die Feststellungen des Gerichts haben im weiteren die Darstellung der Verteidigung bestätigt, dass eine Beschilderung auf der Bundesautobahn 10, die eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h anordnete, vor der Meßstelle nicht eingerichtet war.

Zurecht hat die Verteidigung darauf hingewiesen, dass die auf der Tangente der Bundesautobahn 24 angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h auf der “neuen” Straße, der Bundesautobahn 10, nicht mehr fortgelten kann. Die Ansicht des Gerichts, dass die durch Zeichen 274 angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung nur durch ein weiteres Verkehrszeichen aufgehoben werden könne, ist schlichtweg unzutreffend. Vielmehr endet z.B. eine Geschwindigkeitsbeschränkung an Bau- oder Gefahrenstellen auch ohne eine Aufhebung etwa durch Zeichen 278. Dies hat u.a. das Oberlandesgericht Hamm entschieden:

 

„Eine Geschwindigkeitsbegrenzung, deren Länge nicht durch ein Verkehrsschild ausdrücklich geregelt ist, endet dort, wo die Gefahr aus Sicht eines Ortsunkundigen vorüber ist. Das gilt auch für ein Tempolimit, das wegen einer Bodenwelle (sogenannter sleeping policeman) angeordnet ist, die zur Verkehrsberuhigung an einer unfallträchtigen Kreuzung errichtet wurde.

Nach Ansicht des Oberlandesgerichts Hamm endet die Gefahr jeweils hinter der Bodenwelle und der gefährlichen Kreuzung, wenn keine weiteren Bodenwellen mehr angezeigt oder sichtbar sind. Ab dort darf mit der ursprünglich zulässigen Geschwindigkeit weitergefahren werden.“

OLG Hamm, Urteil vom 11.5.2021, Az.: 7 U 104/19

Vergleichbar liegt der Fall auch hier. Die seitens des Betroffenen zunächst befahrene Bundesautobahn wies keine Geschwindigkeitanordnung vor dem Dreieck Havelland auf (Richtgeschwindigkeit 130). Die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit in Form eines Trichters von zunächst 100 km/h auf dann 80 km/h auf der Tangente ist erkennbar alleine dem Umstand geschuldet, dass die Tangente eine Kurve beschreibt, die eine höhere Geschwindigkeit als 100 km/h nicht erlaubt und sodann eine Gefahrenstelle durch das Zusammenführen der beiden Rampen entsteht. Aus diesem Grunde allein ist auch – zusammen mit dem Zeichen 274-80 und nicht bereits mit dem Zeichen 274-100 (!) – ein Überholverbot für Kraftfahrzeuge über 3,5 t (Zeichen 277) vor der Zusammenführung angeordnet.

Nach der Meßstelle wird die angebliche Geschwindigkeitsbeschränkung von 80 km/h nicht etwa durch Zeichen 278 aufgehoben, vielmehr befindet sich ca. 600 Meter nach der Zusammenführung ein Zeichen 274 mit Zusatzzeichen, das die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h für die nächsten 45 Kilometer wegen fehlendem Seitenstreifen anordnet. Diese Geschwindigkeitsbeschränkung steht ersichtlich nicht in Zusammenhang mit der Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Tangente und soll diese auch nicht aufheben.

Dass auch das Zeichen 277 nach dem Ende der Gefahrenstelle “Zusammenführung der Rampen 1 und 3” nicht mehr fortgilt, wird nicht ernstlich in Zweifel zu ziehen sein. Selbiges muss dann aber auch für Zeichen 274-80 gelten.

Dass das auf der Tangente der Bundesautobahn 24 eingerichtete Zeichen 274 nicht auf der Bundesautobahn 10 fortgelten kann, folgt auch aus einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt. Denn die Bundesautobahn 24 endet spätestens an dem Punkt der Zusammenführung der beiden Rampen 1 und 3. Es kann jedoch nicht ernstlich in Zweifel gezogen werden, dass die Anordnungen auf einer Straße, die mit Einmündung in eine andere Straße endet, auf der übergeordeten Straße nicht fortgelten. Ansonsten ergäbe sich die absurde Situation, dass ein Kraftfahrer, der aus einer Seitenstraße, auf der Tempo 30 angeordnet ist, auf eine übergeordnete Straße, auf der Tempo 50 gilt, einbiegt, weiterhin Tempo 30 einhalten müsste, bis eine neue – ausdrückliche – Regelung angeordnet wird. Eine solche Rechtsansicht kann nicht ernstlich vertreten werden.

Denn es handelt sich gerade nicht um den Fall der Fortgeltung einer Anordnung nach Kreuzungen und Einmündungen ohne audrückliche Wiederholung. Dort – anders als hier – endet die befahrene Straße gerade nicht.

 

Das Urteil ist auch unrichtig, soweit das Gericht ein Fahrverbot mit der Begründung verhängt hat, dem Betroffenen sei eine grobe Verletzung der Pflichten eines Fahrzeugführers vorzuwerfen; dies sei bei einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 45 km/h bereits indiziert.

Das Gericht läßt hierbei die Besonderheiten des Einzelfalles außer Acht, obwohl es erkannt hat, dass – um dem Schuldprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu entsprechen – eine Gesamtwürdigung aller Umstände in objektiver und subjektiver Hinsicht erforderlich ist, um zu bestimmen, ob das gesamte Tatbild vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in einem solchen Maße abweicht, dass ein Fahrverbot unangemessen wäre, mithin eine unverhältnismäßige Reaktion auf ein objektiv verwirklichtes Unrecht und subjektiv vorwerfbares Verhalten darstellen würde.

Vorliegend fehlt es bereits an den Merkmalen des objektiv verwirklichten Unrechts (wegen der nicht fortgeltenden Wirkung der Anordnung auf der “neuen” Straße) sowie des subjektiv vorwerfbaren Verhaltens (wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums, dem der Betroffene im Falle der wirksamen Fortgeltung der Anordnung auf der “neuen” Straße – wofür nicht spricht, s.o. - unterlegen wäre). Aber selbst wenn man diese Merkmale als gegeben unterstellen wollte, wäre dem Betroffenen nicht vorzuwerfen, er habe eine grobe Verletzung der Pflichten eines Fahrzeugführers zu verantworten.

Die in Rede stehende Geschwindigkeitsübertretung von 45 km/h resultierte einzig und alleine aus dem Umstand, dass der Betroffene davon überzeugt war, dass auf der Bundesautobahn 10 (erneut) keine Geschwindigkeitsbeschränkung gilt, sondern lediglich die Richtgeschwindigkeit. Der Betroffene hat sodann mäßig beschleunigt und nicht einmal nach dem Messwert ohne Toleranzabzug (129 km/h) die Richtgeschwindigkeit erreicht.

Der Betroffene durfte auch davon ausgehen, dass an der Meßstelle nicht mehr die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung von 80 km/h gelte. Der Betroffene hat sich dabei auch nicht “blindlings” auf das Navigationsgerät verlassen. Vielmehr hat der Betroffene die Anordnungen auf der Tangente (zunächst 100 km/h, dann 80 km/h) wahrgenommen und beachtet, war sodann beim Auffahren auf die Bundesautobahn 10 der Ansicht, dass die Beschränkung dort nicht mehr gelten würde, weil es sich um eine “neue” Straße handelte. Der Betroffene hat dabei nach Verkehrszeichen Ausschau gehalten, die eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Bundesautobahn 10 explizit anordneten, resp. die Anordnung auf der Tangente fortführten; diese waren jedoch nicht vorhanden.

Dementsprechend war der Betroffene davon ausgegangen, auf der Bundesautobahn 10 gelte bis auf Weiteres nur die Richtgeschwindigkeit. Hiervon durfte der Betroffene auch ausgehen. Dies aus den oben genannten Gründen. Mit dieser Ansicht ist der Betroffene auch keineswegs alleine. Neben dem Unterzeichner sind zumindest auch die Programmierer des Navigationssystems, das in dem Betroffenenfahrzeug verbaut ist, der Ansicht, dass die Anordnungen auf einer Straße, die endet, nicht auf der übergeordneten Straße fortgelten können. Es ist davon auszugehen, dass dem Gericht aus anderen Verfahren eine nicht unerhebliche Zahl anderer Verkehrsteilnehmer bekannt sein wird, die diese Ansicht ebenso vertreten (haben).

 

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